Archiv vom Juli 2nd, 2006

Der Vorteil der Wochenend-Fahrerei liegt - sieht man mal davon ab, daß ich ziemlich gerne Zug fahre - in der vielen Zeit zum Lesen.
Leider sickert diese Zeit nicht durch irgendwelche Ritzen im Raum-Zeit-Kontinuum in unser Universum ein, sondern fehlt ganz real am Wochenende. Letzten Sonntag konnte ich mich aber nicht beklagen - es war ziemlich schwül, da hätte man eh nicht viel anfangen können.
Als ich dann abends auf dem kleinstädtischen Bahnhof stehe, bricht ein heftiges Gewitter los. Einige Blitze schlagen ziemlich in der Nähe ein, und eine der beiden Bahnhofsuhren rafft es dahin. Im Mittelalter wäre das wohl ein Omen gewesen.
Ich mache mir ein bißchen Sorgen wegen meines Anschlusses, aber ein Trost bleibt: der ICE kommt über die gleiche Strecke wie der Nahverkehrszug, und hier gibt es nur ein Gleis pro Richtung. Falls der ICE also nicht zuerst durchrauscht, muß er hinter uns herschleichen, bis ich umsteigen kann.
Der Zug kommt auch tatsächlich ein paar Minuten zu spät; der ICE fährt dann mit 5 Minuten Verspätung hinterher.
Einmal umgestiegen packe ich meinen Stephenson aus; der ist — abgesehen von seiner unhandlichen Größe - ideal für lange Bahnfahrten. Ich habe zwar regelmäßig Schwierigkeiten, mich in den dramatis personæ zurechtzufinden, aber Stephensons Fähigkeit, mit Sprache umzugehen und im besten britischen Understatement[1] einen witzigen Kommentar an den anderen zu hängen, entschädigt reichlich dafür.
Inzwischen sind wir an dem Bahnhof, an dem der zweite Zugteil — gleichsam der Kurswagen des 21. Jahrhunderts - angehängt werden soll.
Das Gewitter überschüttet uns immer noch kübelweise mit Regen, und der andere Zug hat 10 Minuten Verspätung. Kein Problem, ich muß noch einmal umsteigen und habe dafür eine halbe Stunde Zeit. Auf den Bus, der mich dann nach Hause bringt, darf ich sogar nochmal eine dreiviertel Stunde warten.
Als es dann weitergeht, hängen wir eine Viertelstunde hinter dem Fahrplan, und ich lese etwas über falsche Goldmünzen: reicht es, sie zu wiegen oder draufzubeißen, oder ist beides nötig?
Unterwegs gibt es eine Durchsage: der zweite Triebkopf hat wegen des Gewitters keine Spannung mehr, und wir halten auf irgendeinem Bahnhof an, damit der Lokführer nachsehen kann.
Jetzt ist mein IC-Anschluß schon etwas fraglicher; so genau kann man das aber nicht sagen, weil ich nicht weiß, wie weit es von unserem unplanmäßigen Halt zu meinem Umsteigebahnhof ist.
Wenn es Gold gibt, das schwerer als 24 Karat (also gewöhnliches reines Gold) ist, muß man tatsächlich wiegen und beißen.
Ergebnis der Prüfung: der Schaden läßt sich nicht beheben, der hintere Zugteil muß hierbleiben. Die Fahrgäste kommen zu uns nach vorne, es wird etwas voll. Inzwischen ist der Abfahrtszeitpunkt für den IC auch vorbei. Als es dann weitergeht, haben wir 70 Minuten Verspätung — Gutscheinverteilstunde.
Von den Freigetränken habe ich nichts mehr, weil ich aussteigen muß. Ein IC fährt heute nicht mehr - jedenfalls nicht in meine Richtung - also ist Nahverkehr angesagt. Der startet eineinhalb Stunden später als der IC und braucht für die Strecke 40 Minuten länger. Daß der letzte Bus längst weg ist, als ich meinen Zielbahnhof erreiche, versteht sich von selbst. Nach Hause komme ich dann per hackney carriage.

[1] Daß er eigentlich Amerikaner ist, stört dabei gar nicht.

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