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Jetzt, da ich Neal Stephensons jüngstes Werk Anathem durchgelesen habe, wird es Zeit, eine Rezension zu schreiben. Ich muß zugeben, daß ich mich damit schwer tue, und viel besser als der Klapptisch-Eintrag wird sie wohl nicht werden. Gänzlich unmöglich scheint mir eine Diskussion, die zukünftigen Lesern die Spannung erhält: Anathem lebt davon, daß man die Welt bei der Lektüre entdeckt.

Der Autor hat dem Text eine Einführung vorangestellt, die auch einen kurzen historischen Abriß enthält; er ermutigt erfahrene Leser aber, diese zu überspringen:

If you are accustomed to reading works of speculative fiction and enjoy puzzling things out on your own, skip this Note.

Auf den folgenden gut neunhundert Seiten folgen wir dem Erzähler, Erasmas, auf seinen Wegen durch eine seltsame Welt: eine Welt, in der Wissenschaftler in Klöstern leben, in denen sie fast keinen Kontakt zur Außenwelt haben; in der viele bekannte Konzepte unter unbekannten Namen auftauchen; in der das weltliche Leben (sæculum) seltsam verflacht und ungebildet erscheint.

Außerdem folgen wir Erasmas auch auf seinen Streifzügen durch die Metaphysik. An dieser Stelle wird es dann etwas anstrengender: zum einen, weil ich mich nicht sehr gut mit Metaphysik auskenne, und die mit den Theorien verknüpften Namen in Erasmas' Welt nicht mit den bei uns bekannten übereinstimmen; zum anderen, weil hier vieles zwischen den Zeilen gesagt wird, und man deshalb sehr genau lesen muß, um den Faden nicht zu verlieren.

(An dieser Stelle schiebe ich eine Spoilerwarnung ein -- wer Anathem noch lesen möchte und dabei Wert darauf legt, Welt und Handlung zu entdecken, sollte jetzt nicht unbedingt weiterlesen.)

Man kann die Teile des Romans, die die Diskussion über Metaphysik beschreiben, natürlich als Technobabble sehen und einfach überlesen. Ob das, was dann von der Handlung noch übrigbleibt, die Lektüre noch wert ist, darf aber bezweifelt werden: eine halbwegs interessante Reise -- sozusagen ein Roadmovie in Buchform -- immer wieder unterbrochen von längeren Dialogen, und ein recht konfuses Ende lohnen die gut neunhundert Seiten wohl nicht.

Doch nun hinfort mit vagen Andeutungen und her mit einer Inhaltsangabe: Irgendwann in der Vergangenheit ist der Gesellschaft auf Arbre -- so heißt der Planet -- aufgefallen, daß schlimme Dinge passieren können, wenn schlaue Menschen zu viele Werkzeuge in der Hand haben: Neutronenbomben zum Beispiel. In der Folge haben sie ihrer geistigen Elite nach und nach fast alles weggenommen, und der moderne Avout lebt in einer klosterähnlichen Gemeinschaft (Math), in der er nur drei Dinge besitzt: Bolt (Kutte), Chord (Gürtelschnur) und Sphere (eine in der Größe veränderliche Kugel, die unter anderem als Sitzgelegenheit dient). Aufgrund ihrer Abgeschiedenheit werden den Avout in der weltlichen Gesellschaft alle möglichen und unmöglichen Eigenschaften angedichtet; nehmen sie doch je nach Math nur einmal pro Jahr, Jahrzehnt, Jahrhundert oder gar Jahrtausend Kontakt mit der Außenwelt auf.

Die Geschichte beginnt kurz vor Apert, dem zehntägigen Öffnen der Außentür in Erasmas' Math: es herrscht verständlicherweise einige Aufregung, und als der Tag gekommen ist, nimmt man die Gelegenheit wahr, sich die Welt extramuros anzusehen und Verwandtenbesuche zu machen. Nach Ablauf der zehn Tage findet man wieder in den gewohnten Gang der Dinge zurück.

Der ändert sich, als auf Befehl der Inquisition das Observatorium der Math ohne weitere Erklärung geschlossen wird. Solchermaßen herausgefordert, bemühen sich einige der Avout nach Kräften, den Grund der Geheimniskrämerei herauszufinden. Sie machen schließlich ein außerirdisches (oder außer-arbrisches) Raumschiff ausfindig, doch noch bevor sie dazu wesentlich mehr in Erfahrung bringen können, wird eine ganze Reihe von ihnen durch einen Ritus namens Voco aus der Math in die säkulare Welt gerufen. Dies geschieht üblicherweise, wenn die Regierung einen bestimmten Experten benötigt; doch in diesem Falle gibt es gar ein Convox, eine Art Konferenz, an der Avout aus der ganzen Welt teilnehmen. Auf diesem Convox soll in der Tat diskutiert werden, wie man mit der bislang noch unbekannten Raumschiffbesatzung, für die sich die Bezeichnung Geometer eingebürgert hat, umgehen soll.

Erasmas folgt einem Rat des geheimnisvollen Fraa Jad, einem Millenarian, und reist nicht direkt, sondern auf Umwegen zum Konferenzort. Auf dem Weg dorthin lernt er bereits einiges über Metaphysik ("Metatheorics"), das dann später noch vertieft wird. Insbesondere wird eine Erweiterung der Kantschen Ideenlehre präsentiert, derzufolge es nicht nur eine Welt der Ideen und eine der Gegenstände gibt, sondern ein komplexes Netz von Welten, von denen einige "idealer", andere "gegenständlicher" sind, so daß die Gegenstände unserer Welt die Ideen einer anderen sein können.

Doch damit nicht genug: das menschliche Bewußtsein, so wird behauptet, hat die Gabe, Verbindung mit anderen Welten aufzunehmen; wenn wir uns eine fiktive Situation vorstellen -- es könnte jetzt etwa an der Tür klingeln, und ich würde diesen Text beenden, um Besuch zu empfangen -- dann beobachten wir eigentlich eine reale Situation in einer anderen Welt.

Schließlich wird noch von zwei sagenumwobenen Gruppierungen berichtet, deren Existenz jedoch höchst zweifelhaft ist: die Rhetoren können durch Manipulation von Aufzeichnungen die Vergangenheit beeinflussen; die Incanter besitzen eine besonders ausgeprägte Verbindung zu anderen Welten und nutzen diese, um die Gegenwart zu verändern.

Im letzten Teil des Buches stellt sich heraus, daß alle diese Überlegungen mit ziemlicher Sicherheit zutreffen: die Geometer sind in Wirklichkeit ein recht bunter Haufen, sie stammen aus vier verschiedenen Welten, die Arbre alle recht ähnlich, aber doch nicht gleich sind. Als eine kleine Gruppe, zu der auch Erasmas gehört, schließlich in eine Umlaufbahn geschossen wird, um das fremde Raumschiff zu erkunden, geht es wirklich drunter und drüber: während ihrer Mission haben die frischgebackenen Astronauten seltsame Träume und Gedächtnislücken. Sind hier etwa Incanter am Werk? Es sieht ganz so aus. An Bord des fremden Raumschiffs geht es noch einmal hoch her, doch nachdem sich das Knäuel der Weltlinien gelöst hat, wird ein Friedensvertrag unterzeichnet.

An dieser Stelle wäre die Geschichte zu Ende, doch eine Frage läßt unsere Helden nicht los: was ist mit Fraa Jad? Ist er wirklich schon gestorben, bevor es richtig losging? Haben wir ihn nicht eben noch... Offenbar sind auch die Rhetoren nicht faul gewesen, und man weiß nicht mehr so recht, wem man trauen darf.

Zu guter Letzt wagt Arbre einen Neuanfang und hebt die alte Trennung von Säkulum und Maths auf. Der Schritt scheint nicht unbedingt folgerichtig, doch ich denke, hier hülfe es, das Buch erneut zu lesen. Das ist auch das größte -- das einzige -- Problem, das ich mit  Anathem habe: es ist ein gutes Buch, aber auch schwer verdaulich. Um es wirklich zu verstehen, müßte ich es ein zweites Mal lesen. Und bevor ich das tue, müßte der Stapel der ungelesenen Bücher erst etwas schrumpfen.

Der Leser möge die Länge dieser Rezension entschuldigen -- für eine kürzere fehlen mir leider die Fertigkeiten.

Comments Off on Ein Metaphysischer Roman

Das Buch ist so toll.

Schrieb ich neulich, daß in Anathem Wissenschaftler wie Mönche und Nonnen in Klostern leben, so kann ich das nach den ersten einhundertfünfzig Seiten etwas genauer ausführen: in grauer Vorzeit hatte ein gewisser Cnoüs eine Vision, die von seinen beiden Töchtern unterschiedlich interpretiert wurde. Während die eine glaubte, er habe Gott gesehen und sich gegen die Götzenanbetung ausgesprochen, befand die andere, er habe eine Art Ding an sich gesehen, eine Welt bevölkert von platonischen Ideen, die er der Welt der Erscheinungen vorziehe.

Die erste Tochter wurde zur Religionsstifterin in einem durchaus christlichen Sinne; die zweite hingegen gründete die Maths, zu denen ich keine echtes Analogon in unserer Welt kenne -- außer vielleicht den sprichwörtlichen, aber ja nicht wirklich existenten Elfenbeinturm. Die Avout, die dort leben, könnte man am ehesten mit Mathematikern oder allenfalls theoretischen Physikern vergleichen: denn sie streben nach Erkenntnisgewinn nur um der Erkenntnis willen, jegliche Anwendung des erworbenen Wissens ist ihnen fremd.

Was die Lebensumstände innerhalb der Maths anbelangt, könnten sie denen in Forschungseinrichtungen unserer Welt nicht fremder sein; sie erinnern vielmehr an ein traditionelles Kloster: da ist die Disziplin, ein Regelwerk, das das gesamte Leben reglementiert -- es gibt sogar eine Liste mit Pflanzen, die im Garten erlaubt sind; da ist die Inquisition, die über die Einhaltung der Regeln wacht; da sind tägliche Andachten; und natürlich die tiefe Traditionsverbundenheit.

An dieser Stelle sollte ich vielleicht erwähnen, daß die Welt von Anathem älter ist als unsere -- die Antike liegt siebentausend Jahre zurück, und auch das Praxic Age, das dem Industriezeitalter zu entsprechen scheint, liegt drei- oder viertausend Jahre in der Vergangenheit. Daher gibt es für manche Dinge, die uns neu sind, bereits eine jahrtausendealte Tradition.

Auch für Klapptische. Zwischen den großen Konzepten und der beeindruckenden Welt gibt es immer wieder Kleinigkeiten, die mich zum lachen bringen oder den Geek in mir ansprechen. Da ist zum Beispiel der Klapptisch aus Armeebeständen, der inzwischen das stolze Alter von zweieinhalbtausend Jahren erreicht hat, und dessen Mechanismus so kompliziert ist, daß der Protagonist auch nach einer Viertelstunde noch nicht in der Lage ist, den Tisch aufzustellen. Zum Glück gibt es eine Anleitung; diese ist allerdings lediglich fünfhundert Jahre jünger als der Tisch und daher in einer Sprache verfaßt, die nicht mehr ohne weiteres lesbar ist. Wer das nicht witzig oder doch wenigstens interessant findet, dürfte wohl kaum Freude an Anathem haben.

Ich dagegen habe nach zwei Kapiteln noch lange nicht genug. Mehr folge in Kürze.

[Edit: Typos, Übersetzung]

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Zugegeben, geborgtes ist nicht dabei, aber ein neues und ein altes Buch kann ich bieten, oder jedenfalls eines, dessen Lektüre ich gerade beendet habe, und eines, mit dem ich vor kurzem begonnen habe.

Bei ersterem handelt es sich um Pratchetts Wee Free Men. Nachdem ich von Making Money ein wenig enttäuscht war, haben mich die blauen Männer wieder begeistert: Pratchett vom Feinsten, wenn auch nicht ganz so bissig -- aber dafür ist es ja ein Kinderbuch. Die Titelhelden sind in ihrer naiven, draufgängerischen Art einfach liebenswert, und der schottische Dialekt ist herrlich dargestellt.
Ansonsten ist das Buch so, wie Pratchetts Werke eben sind. Die Lektüre geht schnell von der Hand und macht Spaß; und wenn ich eben sagt, es sei nicht ganz so bissig, dann soll das nicht heißen, daß die Gesellschaftskritik ausgespart wäre. Sie nimmt nur einen nicht ganz so breiten Raum ein und ist vielleicht etwas zurückhaltender formuliert.

Neues gibt es von Neal Stephenson, einem meiner Lieblingsautoren. Ich glaube, auf ihn könnte ich weniger leicht verzichten als auf Pratchett: er schreibt zwar seltener, aber seine Werke unterscheiden sich viel stärker. Meine Einstiegsdroge Cryptonomicon spielte parallel im Zweiten Weltkrieg und der nahen Zukunft (inzwischen wohl schon Gegenwart) und handelte im weiteren Sinne von der Kryptographie. Der Nachfolger Baroque Cycle zeigte das Entstehen der Naturwissenschaften und des Finanzwesens zu Beginn der Aufklärung. In beiden Fällen hat mir Stephensons ruhiger Stil, der auf Spannungsbögen gerne verzichtet und stattdessen einfach Geschichten erzählt, sehr gefallen. Dabei beschreibt er oft Details, die wohl nur einem Geek auffallen können -- sei es die Abhängigkeit der mathematischen Leistungsfähigkeit vom Sexualleben (komplett mit Formel und Diagrammen!), oder auch die täglichen Nebensächlichkeiten, die im siebzehnten Jahrhundert doch so anders sind als im einundzwanzigsten.

Stephensons neuestes Werk, Anathem, spielt gar nicht auf der Erde, sondern in einer seltsamen Parallelwelt, in der Wissenschaftler als eine Art Mönche und Nonnen (Fraas und Suurs) in Klöstern (Maths) leben. Manche von ihnen nehmen nur einmal im Jahrzehnt, Jahrhundert oder gar Jahrtausend Kontakt mit der Außenwelt auf, während im Innern das Leben von einer riesigen mechanischen Uhr geregelt wird.

Das ganze (oder doch zumindest die ersten fünfzig Seiten) wird in einer Sprache erzählt, die einen das Kloster fühlen läßt. Ich war von der ersten Seite an gefesselt, aber ich finde die Lektüre auch anstrengend -- Anathem ist kein Buch, das man in einem Rutsch durchliest. Aber es verspricht ein lohnendes Unterfangen zu werden.

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